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Globaler Widerstand

 

 

 

 

Ausschnitte der Rede der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy auf dem Weltsozialforum

 

Im Januar vorigen Jahres versammelten sich Tausende von uns aus der ganzen Welt im brasilianischen Porto Alegre und bekräftigten, dass »Eine andere Welt möglich ist«. Ein paar tausend Meilen nördlich dachten in Washington George Bush und seine Berater das gleiche. Unser Projekt war das Weltsozialforum. Ihr Ziel war es, das voranzubringen, was viele »Das Projekt für das neue Amerikanische Jahrhundert« nennen...

 

Erstmals in der Geschichte hat ein einziges Imperium mit einem Waffenarsenal, das die Welt an einem Nachmittag auslöschen kann, komplette, unipolare wirtschaftliche und militärische Hegemonie. Es wendet verschiedene Waffen an, um unterschiedliche Märkte aufzubrechen. Es gibt kein Land auf Gottes Erden, das sich nicht im Fadenkreuz amerikanischer Marschflugkörper und IWF-Scheckbüchern befindet. Arme Länder, die geopolitisch von strategischem Wert für das Imperium sind oder einen »Markt« von irgendeinem Ausmaß haben oder Infrastruktur, die privatisiert werden kann, oder - um Gottes Willen - wertvolle Naturressourcen wie Öl, Gold, Diamanten, Kobalt, Kohle besitzen, müssen sich wie angeordnet verhalten, oder sie werden zu militärischen Zielen.

 

Das ist immer wieder praktiziert worden - quer durch Lateinamerika, Afrika, Mittel- und Südostasien. Das hat Millionen Menschenleben gekostet. Natürlich wird jeder Krieg des Imperiums zum gerechten Krieg erklärt. Das hängt zum großen Teil von der Rolle der Medienkonzerne ab... Nehmen wir an, Indien wäre als Ziel für einen gerechten Krieg ausgewählt worden. Der Fakt, dass 80000 Menschen seit 1989 in Kaschmir getötet worden sind, die meisten von ihnen Muslime und die meisten durch indische Sicherheitskräfte; der Fakt, dass im März 2003 über 2000 Muslime auf den Straßen in Gujarat ermordet, dass Frauen von Gruppen vergewaltigt und Kinder bei lebendigem Leibe verbrannt und 150000 Menschen aus ihren Heimen vertrieben wurden, während die Polizei und die Administration zuschauten und sich mitunter aktiv beteiligten; der Fakt, dass niemand für diese Verbrechen bestraft und die Regierung, die das überblickte, wieder gewählt wurde - all das würde perfekte Schlagzeilen liefern für internationale Zeitungen im Zulauf auf einen Krieg... Aber solange unsere »Märkte« offen sind, solange Enron, Bechtel, Halliburton, Arthur Andersen freie Hand gelassen wird, können unsere »demokratisch gewählten« Führer sorglos die Linien zwischen Demokratie und Faschismus verwischen...

 

In den letzten beiden Jahren gab es eine Serie von Zwischenfällen, bei denen die Polizei das Feuer auf friedlich Protestierende eröffnete. Die Armen und besonders die Dalits und Adivasi werden getötet, weil sie Forstland nutzen, und sie werden getötet, wenn sie die Nutzung von Forstland für Dämme, den Bergbau, Stahlwerke und andere »Entwicklungsprojekte« zu verhindern suchen. In nahezu jedem Fall, in dem die Polizei schoss, wurde behauptet, sie sei durch Gewaltakte provoziert worden. Jene, auf die geschossen wurde, werden sofort als Militante abgestempelt... In der Ära korporativer Globalisierung ist Armut ein Verbrechen. Protest gegen weitere Verarmung ist Terrorismus.

 

Der Eckstein des Neuen Imperialismus ist Neuer Rassismus, dessen Bestandteil Neuer Genozid ist. In dieser Ära neuer wirtschaftlicher Interdependenz kann Neuer Genozid durch ökonomische Sanktionen gefördert werden. Das heißt, Bedingungen zu schaffen, die zum Massensterben führen, ohne dass man Menschen direkt töten muss...

 

Internationale Instrumente von Handel und Finanzen steuern ein komplexes System von Gesetzen und Abkommen. Ihr Zweck besteht darin, Ungleichheit zu institutionalisieren. Warum sonst würden die USA das Produkt eines Textilherstellers in Bangladesch 20 mal höher besteuern als eines »made in Great Britain«? Warum sonst produzieren Länder mit 90 Prozent des Weltkakaoanbaus nur fünf Prozent der Schokolade in der Welt? Warum sonst fordern reiche Länder, die täglich über eine Milliarde Dollar für Agrarzuschüsse ausgeben, dass arme Länder alle Agrarsubventionen abbauen? Warum sonst stecken ehemalige Kolonien, die mehr als ein Jahrhundert lang von den Kolonialregimes ausgeplündert wurden, in der Schuldenfalle genau dieser Regimes und zahlen ihnen 382 Milliarden Dollar pro Jahr zurück?

 

Aus all diesen Gründen war die Entgleisung der Handelsabkommen in Cancün so entscheidend für uns. Auch wenn unsere Regierungen versuchen, sich damit zu rühmen, wissen wir doch, dass dies das Resultat des jahrelangen Kampfes vieler Millionen Menschen in sehr vielen Ländern war. Cancün lehrte uns: Um radikalen Wandel zu erzwingen, ist es für lokale Widerstandorganisationen von vitaler Bedeutung, internationale Allianzen zu schmieden. Von Cancün lernten wir die Bedeutung globalisierten Widerstands. Radikaler Wandel wird nicht durch Regierungen ausgehandelt, er kann nur durch Menschen erzwungen werden.

 

Wir müssen reale Ziele ins Visier nehmen und wirklichen Schaden anrichten. Gandhis Salzmarsch war nicht lediglich politisches Theater. Als in einem simplen Akt von Ungehorsam tausende Inder zum Meer marschierten und dort ihr Salz gewannen, brachen sie das Gesetz der Salzsteuer. Das war ein direkter Schlag gegen den ökonomischen Unterbau des britischen Empires. Wir dürfen gewaltlosen Widerstand nicht zu ineffektivem, wohlgefälligem politischen Theater verkümmern lassen. Er ist eine sehr kostbare Waffe, die ständig geschärft und justiert werden muss.

 

Es war herrlich, als am 15. Februar vorigen Jahres auf fünf Kontinenten 10 Millionen Menschen mit einer eindrucksvollen Demonstration öffentlicher Moral gegen den Krieg in Irak marschierten. Es war wunderbar, aber es war nicht genug. Der 15. Februar war ein Wochenende. Niemand musste einen Arbeitstag verpassen. Feiertagsproteste stoppen keine Kriege. George Bush weiß das. Das Vertrauen, mit dem er die überwältigende öffentliche Meinung missachtete, sollte uns allen eine Lehre sein. Unsere Bewegung braucht einen großen, globalen Erfolg. Es ist nicht gut genug. Recht zu haben. Wir brauchen eine Minimalagenda. Wenn wir wirklich gegen Imperialismus und Neoliberalismus sind, dann lasst uns den Blick auf Irak werfen. Irak ist die unvermeidliche Kulmination von beidem. Sollten wir nicht darin übereinstimmen, dass wir gegen die USA-Okkupation sind und die USA sich aus Irak zurückziehen und dem irakischen Volk Reparationen für die Kriegsschäden zahlen müssen? Wie beginnen wir mit unserem Widerstand? Beginnen wir mit etwas wirklich Kleinem. Es bedeutet Handeln, um es dem Imperium unmöglich zu machen, seine Ziele zu erreichen. Es bedeutet, Soldaten sollten sich weigern zu kämpfen, Reservisten sich weigern, eingezogen zu werden. Arbeiter sollten es ablehnen, Schiffe und Flugzeuge mit Waffen zu beladen.

 

Ich schlage vor, dass wir auf einer gemeinsamen Abschlusszeremonie von Weltsozialforum und Mumbai Resistance zwei wichtige Unternehmen auswählen, die von der Zerstörung Iraks profitieren. Wir könnten jedes ihrer Projekte erfassen. Wir könnten ihre Büros in jeder Stadt und in jedem Land der Welt lokalisieren. Wir könnten sie jagen, zur Schließung zwingen. Es ist eine Frage, unsere kollektive Weisheit und Erfahrung aus vergangenen Kämpfen für ein einzelnes Ziel einzubringen. Es ist eine Frage des Wunsches zu siegen.

 

Das Projekt für das neue Amerikanische Jahrhundert strebt danach, Ungleichheit fortzusetzen und amerikanische Hegemonie um jeden Preis, selbst wenn er apokalyptisch ist, zu errichten. Das Weltsozialforum verlangt Gerechtigkeit und Überleben. Aus diesen Gründen müssen wir uns als im Krieg befindlich betrachten.

 

 

Januar 2004

 

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