17. Juni 1953
Kommentar zur Zeitgeschichte:
„Volksaufstand“
in einem armen Land
In der Bundesrepublik Deutschland ist die Arbeiterklasse
seit langem abgeschafft, von der Wohlstandsgesellschaft des Sozialstaates
einfach aufgelöst. Wenn es allerdings um die DDR geht und insbesondere um den
17.Juni 1953, flöten die Politiker wie die Medien in den höchsten Tönen vom
„Arbeiteraufstand“. Ihm zu Ehren und zum Gedenken plant die ARD zum 50.
Jahrestag im Jahre 2003 einen gemäßen Film. Weil kaum zu erwarten ist, dass die
Medienanstalt Geschichte nicht klittern wird, habe ich hier festgehalten, was
dazu am 18. Juni 2002 in der überregionalen Zeitung „Neues Deutschland“ stand.
Aus der Rubrik „Meine Sicht“ ein Kommentar von Peter Kirschey unter der Überschrift
„Arbeiteraufstand“
»Faschistischer Putsch« hieß der 17. Juni in der
DDR-Propaganda, als »Arbeiteraufstand« oder »Volksaufstand« gehen jene
dramatischen Tage in die heutigen Geschichtsbücher ein. Kann es sein, dass
zwischen ein und dem selben
Ereignis Welten der Betrachtung liegen? Zehn Jahre war ich alt, als sowjetische
Panzer durch die Stalinallee rollten, zu jung also, um das Geschehen in seiner
Tragweite zu erfassen, doch nicht zu jung, um nicht zu sehen, was da passierte.
Es war für einen Jungen unheimlich spannend. Die Abenteuerlust zog mich zur
Oberbaumbrücke. Hier in der Nähe wohnte ich, ging heimlich Kaugummis kaufen und
für 1:1 Westfilme schauen, denn gleich hinter der Grenze waren die Kleinkinos
»Lido«, »Alhambra« und das »Oppelner«.
Am 17. Juni aber spielte sich der Film auf der
Ostseite der Brücke ab. Aus Kreuzberg strömten johlend hunderte Jugendliche
herüber, schlugen alles kurz und klein, was nicht niet-
und nagelfest war. Ein Kiosk an der Warschauer Straße brannte lichterloh.
Randale von entfesselten Chaoten, würde es neudeutsch heißen. Arbeiter waren
hier nicht ausfindig zu machen. Gleich hinter dem U-Bahn-Viadukt, am Warschauer
Platz, hatte sich ein schwarzer EMW verfahren, der Fahrer flüchtete in Panik.
Unter Gebrüll aus 1000 Kehlen wurde das Fahrzeug in den Westen geschoben. Die
Polizisten auf der Westseite sahen dem Treiben vergnügt zu. Nach drei Stunden
war der Spuk vorbei, als von der Warschauer Brücke sowjetische Einheiten
vorrückten. Später erfuhr ich, ein Verwandter, der als Wachschützer am Haus der
Ministerien arbeitete, war von eine Meute
krankenhausreif geschlagen worden.
War es nun der Zorn des Volkes, der Aufschrei der
Verzweifelten? Die Bewertung überlasse ich jenen, die immer im Namen von
anderen reden. Ich kann nur in meinem Namen reden. Ich habe diesen 17. Juni so
und nicht anders erlebt.
Sodann ein Leserbrief:
Am 16. Juni 1953 erlebte ich in Berlin, wie die
Demokraten über die Oberbaumbrücke kamen. Randalierend, Steine werfend. Auf der
Warschauer Straße warfen die mit so genannten Texasjacken und Cordhosen mit
breitem Umschlag Bekleideten die Schaufenster eines Damenbekleidungsgeschäftes
ein. Am Abend des selben
Tages konnten wir, Mitglieder der FDJ, am Marstall Abgesandte der Freiheit
erleben, als sie versuchten, Teilnehmer einer Veranstaltung mit Otto Grotewohl
im Friedrichstadt-Palast aufzuhalten. Am 17. Juni und den folgenden Tagen sah
ich, wenn es Randale gab, kaum Bauarbeiter oder Reifenwerker, doch diese
Achtgroschenjungen waren vorn. Nicht verstehen kann ich, warum sich
PDS-Politiker, die ihnen ein Denkmal setzen wollen, »demokratische Sozialisten«
nennen.
Herbert Kubisch
12679 Berlin
Und ein Kommentar von Mathias Wedel unter
der Überschrift
Gestern habe ich mal wieder des Aufstands vom 17. Juni
gedacht. Ich habe mir dazu eine Kerze angezündet und den Tag ganz gegen meine
Gewohnheit nicht mit einem Wodka, sondern mit einem stillen Wasser begonnen:
Erinnern muss schmerzen, das wissen wir ja.
Ich habe mich zum Volksaufstand 1953 etwas verspätet,
sonst hätte ich mir in den Augen von Marianne Birthler und Günther Emmerlich unsterbliche Verdienste um die Volksgesundheit
erwerben können. Aber ich wurde meiner Mutter (wem sonst) erst zwei Wochen
später entbunden. Ich soll ziemlich getrödelt haben mit meinem Erscheinen - wer
will schon in eine Welt hineingezogen werden, »in der sich jene Kräfte
durchgesetzt haben, die an einem stalinistischen Sozialismusmodell
festhielten«, wie Stefan Liebich, Direktor des Weltbild-Verlages der PDS,
gestern ein für allemal klarstellte.
Ich bin immer dankbar, wenn mir jemand die Gedenklinie
vorgibt. Man fühlt sich sonst so allein in seinem Kanu auf dem reißenden Strom
der Geschichte. Und ich Dummerchen, ich! Ich kenne Fotos vom 17. Juni, da
werden Zellentüren aufgerissen, hinter denen abgeurteilte Nazis saßen. Ich
kenne Bänder aus dem RIAS-Archiv, da dirigiert eine schöne, freie Stimme der
freien Welt die Randalierer zwischen Leipziger Straße und Strausberger Platz.
Und es gibt Verhaftetenlisten der Ostberliner Polizei
- da liest sich der 17. Juni wie ein Sommerausflug von Jugendlichen aus
Schöneberg und Charlottenburg.
Aber das ist natürlich nicht das Wesen der Sache.
Wesentlich ist: Hätte sich die DDR schon damals ergeben, könnte die Berliner
PDS heute auf ein fast fünfzigjähriges erfolgreiches Wirken zum Wohle des
Kapitalismus zurückblicken. Das haben ihr die Russen natürlich vermasselt.
Ich finde auch, wir sollten den Ruhm der Volksaufständler wieder unter die Ossis tragen. Damit - wie es in einem Aufruf von Frau Birthler und Thomas Flierl heißt - »die Menschen (unsere Menschen! d. Autor) in den Kommunen ermutigt werden« - nein, nicht den Volksaufstand zu wagen, die Westler aus den Ämtern zu treiben, Schienen anzusägen und Getreidelager anzuzünden, sondern Traditionsecken einzurichten auf den Arbeitsamtsfluren, Volkstänze einzuüben (die »Polka der jungen Demokraten« nach Joachim Werzlau) und in ABM-Tätigkeit Matrjoschkas zu fertigen, wo ein Aufständischer aus dem Bauch des anderen kommt. Dennoch bin ich in großer Sorge, ob das alles gelingen wird. Wo nun schon der 3. und 7. Oktober im Osten zu Volkstrauertagen geworden sind, können wir es uns mental nicht leisten, auch noch am 17. Juni die Spiegel zu verhängen. Wir wollen doch lustig sein und uns des freien Lebens freun!
Vielleicht sollte man die Volksfeste zum Volksaufstand
irgendwie mit dem sagenhaften Event namens »Maiglöckchenfest«
des Günter Nooke zusammenlegen. Vermutlich hat das Volksaufstandsfestkomitee auch daran schon gedacht, als es
dem Nooke das Ressort »Massenveranstaltungen, Fackelzüge,
lebende Bilder« übertrug.
Und was die Straßenumbenennungen betrifft, so
sollte man zügig und beherzt vorgehen. Warum nicht dem Volksaufständler
und Volkssänger Günther Emmerlich, unserer Nachtigall
der Revolution, zu Lebzeiten eine Straße schenken! Vielleicht die
Karl-Marx-Allee?
Leserbrief an das „Neue Deutschland“ vom 13./14. Juli 2002:
Wenn da immer wieder behauptet wird, dass es
keinerlei äußere Einflüsse auf die Ereignisse des 17. Juni 1953 gegeben habe,
so straft Egon Bahr, damals Chefredakteur beim RIAS, diejenigen, die das
behaupten und immer noch behaupten, der Lüge. Er war am 12. und 13. Juni 1953
über den RIAS-Originalton so zu hören: »Das autoritäre Regime in der Zone kann
nur durch organisierte Aktionen gestürzt werden.«
Christoph Austel